DIENSTAG, 21.45 UHR

Hans Schmidt sah nicht mehr aus wie Hans Schmidt, sondern wie Pierre Doux. Das unter dem Namen Pablo Castillo gekaufte Prepaid-Handy, das er noch in dieser Nacht entsorgen würde, klingelte um 21.18 Uhr. »Ja?«

»Pierre Doux?«, fragte der Anrufer, einer der beiden Bodyguards von Robert, dem Auktionator, wie er sich gestern noch hatte ansprechen lassen. »Oui, Entschuldigung, ja.«

»Seien Sie um Viertel vor zehn in der Dr.-Hell-Straße, Spedition Drexler International Transports.« »Entschuldigung, wo ist diese Straße?« »Haben Sie kein Nävi?« »Nävi?«

»Navigationssystem, GPS. Haben Sie's jetzt verstanden?«, fragte der andere ungehalten. »Doch, natürlich.«

»Na also. Stadtteil Suchsdorf. Seien Sie pünktlich, wir warten maximal fünf Minuten.«

Schmidt alias Doux ging zu seinem Wagen, gab die Straße ein und langte um 21.42 Uhr am Zielort an. Er schaltete das Licht aus und sah kurz darauf zwei Autos, einen Pkw und dahinter einen 7,5-Tonner, die Straße entlangfahren. Das Tor zur Spedition wurde geöffnet, der Lkw fuhr auf den Hof, der Mercedes folgte, sie blieben an der dunkelsten Stelle stehen. Hans Schmidt lenkte seinen Wagen, einen VW Touran, unmittelbar neben den Mercedes 500.

Auf dem Lkw prangte das Logo der Spedition, ein unauffälliges Auto mit einer heißen Fracht. Hans Schmidt stieg aus, ebenso einer der Aufpasser von gestern und Robert, der Schmidt mit einem kräftigen Händedruck und einem jovialen Lächeln begrüßte. »Vier Frauen für Sie. Vor der Übergabe bitte ich wie vereinbart um die andere Hälfte des Kaufpreises.« »Selbstverständlich«, sagte Schmidt, zog einen Umschlag aus seiner Jackentasche und reichte ihn Robert. Der zählte nach, nickte und wollte bereits seinem Mitarbeiter die Anweisung geben, die Hecktür des Lkw zu öffnen, als Schmidt die Hand hob.

»Bitte, noch einen Augenblick, ich habe noch ein paar Fragen. Wenn ich wieder Frauen möchte, kontaktiere ich Sie wie gehabt?« »Ja. Wann wird das sein?«

»Ich betreibe sechs Luxusbordelle und brauche ständig gute Ware.« Er zögerte und sagte schließlich: »Nun, wie soll ich es ausdrücken, es gibt ein paar Kunden, die etwas ausgefallene Wünsche haben. Wie sieht es mit Jungs aus? Zwischen sechs und zwölf Jahren?«

»Nichts ist unmöglich, sofern Sie bereit sind, den Preis zu zahlen.«

»Sie haben doch gestern selbst erlebt, dass ich bereit bin, auch sehr hohe Preise zu zahlen. Wenn eine Ware mir besonders gut gefällt, überbiete ich jeden. Geld spielt keine Rolle, es geht mir einzig und allein um die Zufriedenheit meiner Kunden.«

Robert zündete sich eine Zigarette an. »Eine sehr professionelle Einstellung. Das heißt dann wohl, Sie wollen nicht mehr an Auktionen teilnehmen, sondern die "Ware direkt geliefert bekommen, wenn ich Sie recht verstanden habe?« »Oui.«

»Das ist eigentlich unüblich, aber ich bin flexibel, schließlich betreibe ich eine große Spedition. Allerdings liefere ich nur in Kiel und hundert Kilometer im Umkreis, den Rest müssen Sie schon selbst erledigen.« »Kein Problem«, sagte Hans Schmidt lächelnd. »Wann könnte ich mir die Ware ansehen?« »Wie lange werden Sie noch in Kiel sein?« »Ein paar Tage.«

»Sagen wir Samstag. Wie viele brauchen Sie?« »Wie viele? Wie viele brauchen denn Ihre anderen Kunden so im Schnitt?« »Ich verstehe nicht ...«

»Ich brauche zehn Jungs, fürs Erste. Wenn ich und meine Kunden zufrieden sind, gibt es Nachfolgeaufträge.« »Sie werden zufrieden sein, darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«

»Ich hätte da noch einen Wunsch ... Ich habe drei Kunden, die verlangen das zarteste Fleisch auf dem Markt, sehr, sehr jung und sehr, sehr zart.« »Verstehe. Geschlecht?« »Weiblich.«

»Wie sind Sie denn bisher an diese Ware gelangt?« »Über einen großen Kinderhändlerring in Frankreich und Spanien, der aber vor drei Monaten zerschlagen wurde, das heißt, die Bosse hat's erwischt...«

»Und wieso Sie nicht?«, fragte Robert misstrauisch. »Robert, was wäre dieses Leben ohne Beziehungen? Außerdem lief alles derart kontrolliert und geheim, im Prinzip wie hier auch, es wurde nur ein einziger Fehler gemacht, und der lag bei der Polizei. Ein unzufriedener Beamter, wenn Sie verstehen ...« »Nicht ganz. Wenn Sie's mir bitte erklären würden.« »Er glaubte, für seine Verschwiegenheit mehr Geld verlangen zu dürfen. Als er es nicht bekam, ließ er eine Razzia durchführen. Er, der zuständige Staatsanwalt, der alles abgesegnet hat, und ein paar weitere Polizeibeamte wurden kurz darauf aufs Land versetzt.« »Was ist mit den Bossen passiert?«

»Verhaftet. Sie werden aber nach einem Schauprozess bald wieder auf freien Fuß kommen.« Robert lachte leise auf. »Verstehe. Bis es so weit ist, brauchen Sie einen anderen Lieferanten.« »Nein, ich werde nicht mehr mit ihnen zusammenarbeiten, es ist mir zu unsicher geworden. Was ist jetzt mit meinem Wunsch?«

»Für mich ist nichts unmöglich. Drei?« »Sechs. Ist das machbar?«

»Alles ist machbar. Am Wochenende, ich gebe Ihnen Bescheid, wann die Ware abholbereit ist. Das wird aber teuer, besonders ausgefallene Wünsche haben ihren Preis. Ich schätze mal, so um die ...«

Bevor Robert den Satz vollenden konnte, zog Hans Schmidt blitzschnell eine Pistole mit Schalldämpfer und hielt sie Robert an die Schläfe. Den Zeigefinger der anderen Hand legte er an seinen Mund.

»Pst, ganz leise, wir wollen doch keinen Lärm machen, es ist so schön friedlich hier. Robert, es tut mir leid, aber manche Dinge müssen einfach sein.«

Im nächsten Augenblick drehte er sich zur Seite und feuerte zwei fast lautlose Schüsse auf Roberts Bodyguard ab, der nicht den Hauch einer Chance hatte, nach seiner Waffe zu greifen. Er fiel zu Boden, zuckte noch ein paarmal und starb.

»So, und jetzt kümmern wir uns um deinen zweiten Mann. Komm mit zum Auto und lass dir nichts anmerken, dann wird dir auch nichts passieren.« »Was hast du vor? Willst du mich umbringen?«, fragte Robert ruhig, doch Schmidt wusste, es war eine aufgesetzte Ruhe.

»Nein, nur deine Affen«, sagte Schmidt nun in akzentfreiem Deutsch. »Und ich?«

»Lass dich überraschen. Mach die Fahrertür auf«, sagte Schmidt leise, »und gib dich völlig normal. Es ist in deinem eigenen Interesse.«

Sie gelangten an die Fahrertür, Robert öffnete sie, der bullige, stiernackige Typ, der am Vorabend Svenjas Blut weggewischt hatte, sah Robert an und wollte etwas sagen, als auch ihn zwei Schüsse wie aus dem Nichts trafen und er aus der Fahrerkabine mit dem Kopf voran auf den harten Asphalt aufschlug. Es gab ein knackendes Geräusch, als sein Schädel barst. »Nun sind wir allein, nur du und ich.« »Du hast die Frauen vergessen«, entgegnete Robert, der immer noch gelassen wirkte, entweder war er ein hervorragender Schauspieler oder er hatte tatsächlich keine Angst. »Habe ich nicht. Dreh dich um, die Hände an den Wagen, die Beine gespreizt.« »Bist du ein Bulle?«

»Ich weiß, dass du mit Bullen und noch höheren Tieren zusammenarbeitest, sonst würdest du schon längst im Knast verrotten, aber ich bin weder ein Bulle noch ein Staatsanwalt.«

»Wer dann?«

»Das wirst du noch erfahren.«

»Hey, wir können doch über alles reden. Du kriegst das Geld zurück und kannst die Frauen nehmen und ...« »Halt's Maul, halt einfach nur dein Maul. Du darfst die Hände jetzt ganz langsam runternehmen und sie hinter den Rücken halten. Und keine falsche Bewegung, du hast erlebt, wie es deinen Lakaien ergangen ist. Schnell und schmerzlos. Also, wenn ich bitten darf.« Robert folgte der Aufforderung, Handschellen klickten um seine Handgelenke. Danach machte Schmidt die Seitentür des Lieferwagens auf, die vier Frauen sahen ihn furchtsam an.

»Kommt raus«, sagte Schmidt, doch die vier Frauen im Alter zwischen siebzehn und zwanzig zögerten. »Nun macht schon, kommt raus, ihr braucht keine Angst mehr zu haben, ihr könnt gehen ... Mein Gott, ihr seid frei, ihr dürft nach Hause zu euren Familien!« Ohne ein Wort zu sagen und immer noch ängstlich, stiegen die vier Frauen von der Ladefläche, eine von ihnen stolperte und konnte im letzten Moment von einer anderen aufgefangen werden.

»Hier ist Geld«, sagte Schmidt und hielt den Umschlag hoch, den er kurz zuvor Robert gegeben und jetzt wieder an sich genommen hatte. »Wer von euch spricht am besten Deutsch?«

»Ich«, sagte Carla, die wie ihre Leidensgenossinnen Highheels, einen Minirock und eine dünne Jacke trug. Langsam trat sie einen Schritt vor.

»Okay, in diesem Umschlag ist eine Menge Geld. Ihr nehmt es und verschwindet so schnell wie möglich aus Deutschland. Fahrt zurück in die Heimat, morgen früh legt ein Frachter, die >Eternidad<, Richtung Sankt Petersburg ab, der Kapitän weiß Bescheid. Auf diesem Zettel hier steht alles drauf, wo das Schiff liegt und so weiter und so fort. Nehmt euch ein Taxi zum Hafen, der Taxifahrer wird wissen, wo der Frachter liegt. Gebt dem Kapitän viertausend Euro, der Rest ist für euch. Lasst euch nie wieder überreden, nach Deutschland oder in ein anderes westliches Land zu kommen, wenn ihr nicht genau wisst, wo ihr landet. Hast du mich verstanden? Habt ihr mich verstanden?«

Carla nickte mit Tränen in den Augen. Sie konnte noch immer nicht fassen, dass sie nun doch nicht in einem Bordell Tag und Nacht geilen Freiern zur Verfügung stehen musste, wo sie jeden Wunsch, auch den perversesten, zu erfüllen gehabt hätte, da sie sonst brutal geschlagen worden wäre. Seit sie ihre Heimatstadt in der Ukraine verlassen hatte, hatte sie in einem Alptraum zu leben geglaubt.

Sie war vergewaltigt worden, bis sie meinte, ohnmächtig zu werden, weil wahnsinnige Schmerzen ihren Körper durchfluteten. Alles in ihr hatte gebrannt, Blut war aus ihrer Vagina und dem Anus geflossen, so dass sie die ersten drei Tage nur noch hatte sterben wollen. Doch Robert und seine Aufpasser hatten dies nicht zugelassen, ein Arzt hatte die Wunden versorgt, ein paar Scheine in die Hand gedrückt bekommen und war, nachdem er sich auch um die anderen Mädchen und Frauen gekümmert hatte, wieder verschwunden. Sie hatte kaum zu essen und zu trinken bekommen, dafür Unmengen Kokain, das zu nehmen man sie gezwungen hatte. Bis vor wenigen Minuten war die Neunzehnjährige noch der festen Überzeugung gewesen, nur noch ein paar Jahre leben zu dürfen, wobei es kein Leben gewesen wäre, sondern nur ein immer wiederkehrender Tagesablauf ohne jede Freiheit. Die anderen drei jungen Frauen hielten sich fest an den Händen und nickten ebenfalls, auch wenn sie nicht alles von dem verstanden, was er sagte. Noch schienen sie nicht begriffen zu haben, dass der Alptraum vorbei war, obwohl sie in den vergangenen acht Tagen die Hölle auf Erden erlebt hatten.

»Dann erklär das auch deinen Freundinnen. Ihr seid mit dem Leben davongekommen, vergesst das nie. Das Geld teilt ihr durch vier, das sind immerhin zwanzigtausend für jede von euch.«

»Danke ... Danke, danke, danke, Herr ...«

»Du brauchst mir nicht zu danken, tu einfach nur das,

was ich dir gesagt habe. Viel Glück für euch. Und jetzt ab!«

Und an Robert gewandt: »Du steigst in meinen Wagen, und dann fahren wir zu dir, ich habe einiges mit dir - zu besprechen.«

»Ach ja? Du weißt doch gar nicht, wo ich wohne.« »Du hast ein großes Problem, Robert: Ich weiß alles über dich, während du nicht das Geringste über mich weißt, dabei sind wir uns schon einige Male begegnet. Dein Pech.« Auch wenn es dunkel war, spiegelte sich zum ersten Mal so etwas wie Angst in Roberts Gesicht wider. »Wer bist du?«

»Das erfährst du in wenigen Minuten. Steig ein und versuch keine Mätzchen, ich muss nur noch sauber machen.«

Schmidt half Robert auf den Rücksitz, legte ihm Fußfesseln an und schloss die Tür. Anschließend hievte er die beiden toten Männer in den Lkw, machte alle Türen zu und schloss auch Roberts Mercedes ab.

»So, dann fahren wir mal zu dir, ich möchte ungestört mit dir reden, das wirst du sicher verstehen.«

»Können wir das nicht freundschaftlich unter Männern besprechen?«, fragte Robert vom Rücksitz aus.

»Wir und Freunde? Ich brauche keine Freunde. Und jetzt halt die Klappe.«

»Warum hast du meine Leute umgelegt?« »Weil sie wie Portugiesische Galeeren waren, das sind Quallen, hirnlos, aber extrem gefährlich. Du sagst deinen Quallen, sie sollen jemanden kaltmachen, und sie tun's. Ihnen ist es vollkommen gleichgültig, wen sie umbringen, Kinder, Jugendliche, Frauen, Hauptsache ist, dass sie dir zu Diensten sein dürfen und entsprechend gut entlohnt werden. Ich habe nie solche Quallen gebraucht, ich erledige meine Sachen stets allein.« Schmidt fuhr aus Kiel heraus nach Mönkeberg und erreichte nach etwa zwanzig Minuten Roberts Zuhause, eine prunkvolle Jugendstilvilla, umschlossen von Bäumen, die jetzt bei Nacht wie finstere Wächter wirkten. Es herrschte Stille, kein Auto, keine Stimmen, nichts. Nicht einmal das Plätschern kleiner Wellen an den Strand war zu hören.

»Wie geht das Tor auf?«, fragte Schmidt. »Du hättest meinen Wagen nehmen sollen ...« »Wie geht das Tor auf?«

»Rechts neben dem Tor ist eine Klappe, die schiebst du zur Seite und gibst eins, neun, zwei, acht ein.« Kurz darauf hielt Schmidt vor der Garage, in der Platz für vier Autos war, das Tor war von allein wieder zugegangen.

»Woher willst du wissen, dass wir nicht allein sind?«,

fragte Robert mit belegter Stimme.

»Ich habe dir doch gesagt, ich weiß alles über dich, auch über deine Lebensumstände. Lass uns reingehen, dort ist es gemütlicher.«

Schmidt löste die Fußfessel und half Robert aus dem Wagen. Er wusste, dass sich Robert nicht sehr häufig hier aufhielt, die meiste Zeit verbrachte er in seinem opulent ausgestatteten vierhundert Quadratmeter großen Penthouse in der Kieler Innenstadt, acht Stockwerke über der Straße. Hier in dieser Villa tätigte er seine Geschäfte, sie war geradezu ideal für den Verkauf von Kindern und Frauen, die in Lieferwagen angekarrt wurden wie Vieh und durch die Garage direkt ins Haus gebracht wurden. Weit und breit nahm niemand Notiz von dem Treiben, das sich ein- bis dreimal pro Woche hier abspielte, es konnte auch keiner etwas merken, da die Rollläden nachts heruntergelassen und die Scheiben zusätzlich durch lichtundurchlässige schwarze Vorhänge verdeckt waren. »In den ersten Stock«, sagte Schmidt und gab Robert einen Stoß von hinten, dass dieser fast das Gleichgewicht verlor und beinahe auf die Stufen gefallen wäre. »Und dort?«

»Wirst du schon sehen. Auf, ich habe meine Zeit nicht gestohlen. Du weißt ja, wo's langgeht.« »Du Arschloch, du kleines, mickriges Arschloch! Du glaubst allen Ernstes, du würdest mit der Nummer durchkommen? Im Leben nicht, die werden dich bei lebendigem Leibe häuten und dann wie ein Schwein am Spieß braten ...«

»Wenn du meinst«, erwiderte Schmidt lakonisch und gab Robert erneut einen kräftigen Stoß in den Rücken, sobald sie den großen Raum, in dem die Auktion stattgefunden hatte, erreichten. Diesmal konnte sich Robert nicht mehr halten, er verlor das Gleichgewicht und stürzte mit dem Gesicht voran auf den harten Marmorboden, der so gut gereinigt worden war, als wäre vor gut vierundzwanzig Stunden keine junge Frau namens Svenja brutal ermordet worden. Kein Blut, nichts. Ein großer, hoher Raum, stilvoll mit alten Möbeln eingerichtet, wie gemacht für den Empfang von auserlesenen Gästen. Schmidt packte Robert von hinten unter den Achseln und hob ihn hoch, als hebe er ein Blatt Papier auf, obgleich Robert nicht nur mindestens zehn Zentimeter größer, sondern auch zwanzig oder fünfundzwanzig Kilo schwerer war.

Robert blutete am Kinn und aus der Nase, doch sein Blick war eisig. »Du verdammtes Arschloch. Du hast keine Ahnung, mit wem du es zu tun hast. Nicht mehr lange, und es wird hier von meinen Leuten nur so wimmeln.« »Glaub ich kaum.«

Nach diesen Worten rammte ihm Schmidt mit voller Wucht die Faust in die Magengegend, dass Robert auf die Knie fiel und wie ein Ertrinkender nach Luft japste. »Sagst du mir endlich, was du willst?«, kam es schwer über seine Lippen, während er weiter nach Luft rang. »Kommt noch. Hoch mit dir.«

Mühsam erhob sich Robert und versuchte ein Grinsen, das jedoch nichts als eine dämonische Fratze war. »Du hast noch eine Viertelstunde, dann bist du tot.« »Du hast es noch immer nicht kapiert, oder?« Wieder schlug er mit der Faust in Roberts Magen, diesmal schrie er auf und wand sich vor Schmerzen auf dem Boden.

»Hör zu, ich tu alles, was du willst«, kam es stockend über seine Lippen, »alles, ich schwöre, ich tu alles, aber hör auf damit, okay?«

Ohne etwas zu erwidern, ging Schmidt nach draußen, machte die Tür hinter sich zu und sah auf die Uhr. Es war nicht derselbe zeitliche Ablauf wie gestern, doch das war nebensächlich. Nach exakt fünf Minuten kam er wieder herein, ging auf den wieder auf den Beinen stehenden Robert zu, der keuchend an der Wand lehnte, zog den schwarzen Nietengürtel, den Robert umgebunden hatte, aus den Schlaufen, faltete ihn einmal und sagte: »Du weißt, was jetzt kommt?«

»Nein, nein, das kannst du nicht machen! Hey, nicht diese Nummer, okay? Nicht diese Nummer! Ich überschreib dir mein ganzes Vermögen, ich gebe dir alle meine Kontaktdaten, du kannst alles haben, aber nicht diese Nummer. Ich flehe dich an«, stammelte Robert mit vor Angst geweiteten Augen. »Nicht den Gürtel!«, schrie er. »So viele haben dich angefleht, aber dich hat das nicht interessiert. Nur Svenja hat bis zum Schluss ihre Würde gewahrt. Sie hat nicht so erbärmlich gejammert wie du.« Schmidt packte Robert am Hosenbund, löste den Knopf und zog den Reißverschluss herunter, die Hose rutschte langsam an Roberts weißen Beinen entlang zu Boden. Danach zerriss Schmidt Roberts Hemd, während dieser schrie und um sein Leben bettelte.

»Sei still, du Memme!« Schmidt ließ seine Faust in Roberts Seite krachen, bis dieser sich vor Schmerzen krümmte. Er gab ihm noch einen Tritt, zog Roberts Hose aus und riss das Seidenhemd in kleine Stücke, bis es verteilt auf dem Marmor lag. Zuletzt zog er ihm auch noch die Unterhose aus, nur die Socken ließ er an Roberts Füßen.

»Du bist der Abschaum der Gesellschaft, die Jauchegrube, in der auch Bruhns mitgeschwommen ist. Was du mit Svenja gemacht hast, war das Grausamste, das ich je mit eigenen Augen gesehen habe, und ich versichere dir, ich habe eine Menge Grausames gesehen. Aber ich weiß jetzt auch, dass die Geschichte, die mir über dich berichtet wurde, wahr ist. Ein neunjähriges Mädchen, deine Stieftochter, hast du an eine Heizung gekettet, mit den Händen und mit einem Eisenring um den Hals. Sie hat zusehen müssen, wie du Mädchen und Frauen wie Kühe und Schweine versteigert hast. Sie hat zusehen müssen, wie du eine junge Frau vor ihren Augen umgebracht hast, so wie du Svenja umgebracht hast. Ein Mädchen, für das du hättest sorgen sollen. Stattdessen hast du dich an ihrer Angst geweidet. Ich wollte diese Geschichte erst nicht glauben, doch sie wurde mir von einer dritten Person bestätigt. Dazu hatte ich Einblick in Unterlagen, die bei einem Notar liegen ...«

»Das ist eine Lüge! Das ist eine gottverdammte Lüge! Die Schlampe will mich fertigmachen! Glaub ihr kein Wort!«

»Wenn du ein Mann wärst, würdest du zu deinen Taten stehen, so wie ich es tue. Weißt du eigentlich, wer ich bin? Nein? Dann werde ich es dir erklären. Ich war gestern fast acht Stunden bei dir, wegen eines gewissen Niccolò Machiavelli. Was sagst du jetzt?« »Im Leben nicht...«

»Ich bin Hans Schmidt, ob du's glaubst oder nicht. Normalerweise töte ich Menschen nur im Auftrag, und glaub mir, neunundneunzig Prozent von ihnen sind genau solche Ratten wie du. Aber in deinem Fall handle ich auf eigene Rechnung, bevor ich mich demnächst zur Ruhe setze.«

»Ich kenne Schmidt, der sieht ganz anders aus! Der ist nie im Leben ein Auftragskiller. Verarschen kann ich mich alleine!«

»Du hast recht, aber ich hätte als Hans Schmidt ja niemals miterlebt, was du neben deinem eigentlichen Beruf so treibst, wenn ich gesagt hätte, ich möchte bei einer deiner Auktionen mitbieten. Ich werde meine Maske nicht abnehmen, ich sage dir nur, die beiden Machiavellis sind echt, ich habe eine Altersbestimmung von Papier und Tinte durchgeführt, du hast mir mein Honorar bar in die Hand gedrückt, du hattest gestern eine hellbeige Cordhose und einen beigebraunen Pullover mit V-Ausschnitt an und ein paar Segelschuhe. Ich habe drei Tassen Kaffee und ein Glas Wasser getrunken, und du hast mir ein paar Geschichten aus deinem Leben erzählt. 1959 in Frankfurt geboren und aufgewachsen, Abitur, BWL-Studium, deine Heirat, wobei du ein paar wesentliche Dinge ausgelassen hast, denn die waren ja nicht für Hans Schmidts Ohren bestimmt. Anfang der Neunziger bist du nach Kiel gezogen, wo du angeblich herstammst und vor fünfzehn Jahren eine der größten Speditionen Deutschlands geerbt hast, was natürlich nicht stimmt, aber wie sollte der gutmütige Trottel Hans Schmidt das schon wissen? Der gibt sich doch bloß mit alten Büchern und Handschriften ab. Okay, Schmidt geht in der High Society ein und aus, so wie Bruhns und du, dennoch ist er nur ein einfacher Mann, der seinen Hauptwohnsitz in Lissabon hat. Willst du noch mehr hören?«

»Okay, okay, du bist also Hans Schmidt. Und nun?« »Steh auf«, sagte Schmidt kalt. »Ich schaff das nicht alleine.«

»Du hast das doch eben schon mal alleine geschafft. Also, hoch mit dir. Svenja hat es auch beim zweiten Mal geschafft, sie war eine bewundernswert starke Frau, wie ich nur zwei weitere kenne. Ihr Tod wird auch dein Tod sein.« In Roberts Augen stand nun das nackte Grauen, seine Hände waren nach wie vor hinter dem Rücken mit Handschellen gefesselt. Langsam robbte er sich zur Wand hin und schob sich allmählich nach oben. Als er stand, packte ihn Schmidt am Oberarm und stellte ihn in die Mitte des Raumes.

»Ungefähr hier hat Svenja gestanden. Richtig?« »Das wagst du nicht! Damit kommst du nicht durch!«, stieß Robert mit heiserer Stimme hervor. »Du wiederholst dich. Ich komme seit fünfundzwanzig Jahren mit allem durch, und weißt du auch, warum? Weil ich genau wie du Protektion von ganz, ganz oben genieße. Das ist aber auch das Einzige, was wir beide gemeinsam haben. Nun, auch das wird sich womöglich schon sehr bald ändern, denn ich weiß, wie bestimmte Personen darauf reagieren, wenn man nicht nach ihren Spielregeln spielt. Nur bin ich dann längst von der Bildfläche verschwunden und werde mein Leben genießen. Niemand wird mich je finden, weil es nur noch Hans Schmidt, aber keinen Pierre Doux oder eine andere meiner Identitäten mehr geben wird.«

»Sie kriegen dich, verlass dich drauf«, spie ihm Robert entgegen.

Kaum hatte das letzte Wort seinen Mund verlassen, krachte ihm der Gürtel mit lautem Knall und den Nieten voran auf den Rücken. Er schrie vor Schmerzen auf, doch Schmidt peitschte erbarmungslos immer weiter auf ihn ein, bis er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Er schrie, jammerte, wimmerte, flehte um Gnade, doch Schmidt ging nicht darauf ein und löste schließlich ungerührt die Handschellen, Robert wälzte sich auf dem Marmorboden, Haut hing in Fetzen an Armen und Oberkörper herunter. Wie bei Svenja.

»Sie kriegen mich nicht«, sagte Schmidt gelassen und stand breitbeinig über Robert. »Na, wie fühlt sich das an, wenn dieser brennende Schmerz durch den ganzen Körper zieht und man weiß, man wird diesen Schmerz nie wieder los? Wie ist das?«

»Bitte«, kam es kaum hörbar über Roberts Lippen, »bitte, hör auf, ich kann nicht mehr.«

»Hast du bei Svenja aufgehört? Ich kann mich nicht erinnern. Ganz im Gegenteil, du hast weitergemacht, ziemlich genau zehn Minuten hast du sie mit dem Gürtel ausgepeitscht, bis sie nur noch ein blutiger Klumpen Fleisch war. So wie du jetzt. Ich habe auf die Uhr gesehen, das eben waren auch zehn Minuten, die dir wie eine Ewigkeit vorgekommen sein müssen. Ich schlage dir nun einen Deal vor, was normalerweise nicht meine Art ist, doch heute will ich eine Ausnahme machen: Wenn du es schaffst, aufzustehen und dich gegen mich zu wehren, lasse ich dich am Leben. Du hast mein Wort darauf«, sagte Schmidt mit maliziösem Lächeln. Robert antwortete nichts darauf, er versuchte aufzustehen, doch er hatte keine Kraft mehr. Er wollte wie gestern Svenja zur Wand kriechen und sich hochziehen, aber auch das gelang ihm nicht. Wie Svenja blieb er erschöpft liegen, das Gesicht leicht zur Seite gedreht, die Arme nach vorne gestreckt, die Hände zitterten.

»Siehst du, jetzt weißt du, wie Svenja sich gefühlt haben muss. Und sie war ja beileibe nicht die Erste und Einzige, da waren noch viel mehr Mädchen und Frauen, die du kaltblütig umgebracht hast...«

»Lass mich leben, bitte«, flüsterte Robert mit rauher Stimme und hob ganz leicht den Arm, der jedoch sofort wieder auf den Marmor klatschte. »Lass mich leben.« Ohne etwas zu erwidern, nahm Schmidt ein Messer in die Hand und beugte sich zu Robert hinunter. Er legte seinen Mund an dessen Ohr und sagte: »Siehst du das Messer in meiner Hand? Es ist vorbei. Fahr zur Hölle!«

Er packte Robert von hinten bei der Stirn, riss den Kopf hoch und machte einen langen Schnitt über den Hals, trat sofort danach ein paar Schritte zurück und betrachtete seine Kleidung, doch es war kein Blut darauf zu sehen. Blut floss über den Boden, aber heute war niemand da, um ihn zu reinigen. Schmidt warf einen letzten Blick auf Robert, dessen Augen wie bei Svenja weit offenstanden, als wollte er sich bis zum letzten Augenblick nicht dem Tod ergeben. Aber der Tod ließ sich nicht besiegen. Zum Abschluss vollzog er sein Ritual. Danach löschte er das Licht und ging nach unten, lehnte die Haustür an und ging zu seinem Auto. Auf der Rückfahrt hörte er leise »La Mer« von Debussy und dachte an Maria, die er trotz der späten Stunde noch anrufen würde. Und er hatte noch einen anderen Anruf zu tätigen.

 

Eisige Naehe
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